Der vernünftige, anständige und bedachte Mensch regt sich im allgemeinen ungern auf, ist duldsam und kann ertragen. Und bringt deshalb im Leben meist nicht wirklich viel zustande. Die Arschlöcher, die groben und lauten hingegen setzen sich durch.
Nehmen Sie folgende typische Szene als Beispiel: überfüllter Supermarkt, nur eine Kasse geöffnet.
Wir anständigen stellen uns stoisch seufzend ans Ende der viel zu langen Schlange, wie alle anderen anständigen vor und nach uns, und die Schlage wird länger und länger. Bis ein zutiefst unsympathischer Wutrentner um die Ecke kommt, lauthals losschimpft, das sei ja wohl eine Unverfrorenheit, zielsicher die völlig unschuldige und ohnehin schon überforderte Kassiererin anpöbelt, und keine 10 Sekunden später wird eine zweite Kasse geöffnet, alle atmen auf und das Problem ist gelöst. Weil meckern leider meistens hilft.
Genau deshalb bin ich für Sie unlängst in die Rolle des unsympathischen Wutrentners geschlüpft und habe hier mehrere Beiträge lang über aktuelle Musik geschimpft. Das hat zwar tierisch genervt, war aber natürlich umgehend erfolgreich.
Denn prompt kam der liebe Gott / das Schicksal / Frau Holle gerannt und schüttelte uns allen ein dermaßen wunderschönes Album aus der Bettwäsche, dass man es kaum glauben mag.

Das neue, zweite von The Lumineers ist gemeint. Es heißt Cleopatra, hat eine bezaubernde Nase, und dass es tatsächlich noch mal so gut sein könnte wie das erste, wenn nicht gar noch deutlich besser, das war nun beileibe nicht unbedingt zu erwarten, nachdem die Band sich, einer aberwitzigen Schleife der Zeitläufte folgend, mit ihrer Opus-goes-wild-west-Single Ho-Hey von vor drei Jahren plötzlich weltweit in den Schrottradioformaten wiederfinden durfte.
Aber keine Bange. Beinahe alles ist gut auf diesem Album. Eine Wahnsinnsstimme, tolle sparsame Arrangements, wunderschöne Melodien und mitunter formidable Texte. Etwa auf dem großartigen Gun Song oder auf dem Titeltrack Cleopatra:
„I was late for this, late for that, late for the love of my life.
And when I die alone, die alone, when I die I’ll be on time.“
Und, wo wir gerade beim Sterben sind, My Eyes ist so ergreifend melancholisch – das wünschte man sich auf der eigenen Beerdigung.
Während Opener Sleep On The Floor wie der Wunsch-Soundtrack zu Jennifer Egans The Invisible Circus klingt.

Ich mache hier keine Witze, meine Damen und Herren. Ich bin tatsächlich nach langer langer Zeit der Entbehrung mal wieder richtiggehend hingerissen von der Anmut eines Albums.
Locker der beste Longplayer aus 2016 bislang, aber wahrscheinlich genauso locker auch eines der bisher besten Alben der 10er-Jahre.
Wäre die Platte ein Ort, man müsste ihn Hohenschönhausen nennen.
Das Album ist bildhübsch, oder sagen wir prächtig, oder sagen wir glanzvoll. Oder sagen wir: beinahe makellos.
Beinahe deshalb, weil der vermutlich als neue Single konzipierte Song Ophelia mal wieder genau die Spur zu naiv und aufdringlich ist, wie es auch Ho-Hey seinerzeit war. Und damit dürfte den Lumineers am Ende sogar auch noch der erneute Sprung in die Deppencharts gelingen.
Es sei ihnen ausdrücklich gegönnt.

Links (leider vorerst alles nur live-Clips):
Cleopatra
Angela
Gun Song

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