Als ich soeben nichtsahnend (also nicht etwa nicht-sahnend, sondern nichts-ahnend) in der U-Bahn saß, vertieft in meine englischsprachige Lektüre, wurde ich unvermittelt von einem jungen Mann mit starkem französischen Akzent wie folgt angesprochen:
„Is this your first time?“
Bitte?
Als geübter Großstädter reagiert man naturgemäß auf seitliches Anquatschen durch Fremde mit einem anerzogenen Abwehrinstinkt – man vermutet sofort einen Betteljunkie hinter der unüblichen menschlichen Offenheit, oder aber, je nach optischem Erscheinungsbild, irgendeinen Zeugen Jehovas oder sonstigen Esoterik-Verwirrten, der einem flugs wahlweise ein Gespräch über die Bibel oder ein fußgemaltes Sonnengemälde aus den Praunheimer Werkstätten andienen möchte.
Ich tippte spontan auf die Heilsarmee-Variante, zumal der junge Mann seine Frage durch zirkulierendes Herumdeuten mit seinem eigenen Buch gestisch untermalte.
Das ganze dann noch gepaart mit dieser ja durchaus absurden Frage.

„You know, my first time – let’s put it this way: I was glad I had finally dunnit, but I suppose, I wasn’t actually, you know, professional, sort of, er, well anyway that’s ages ago“ usw.

In einer der vermutlich schnellsten und verwirrtesten Assoziationsketten meines Lebens dachte ich kurz an die olle Abwärts-Kamelle Beim ersten Mal tut’s immer weh, an diverse weitere erste Nächte meines flamboyanten Liebeslebens (let’s put it this way: I was glad I had finally etc. siehe oben), an die potenzielle Möglichkeit, dass dies ja unter merkwürdigen Umständen tatsächlich die allererste U-Bahn-Fahrt meines Lebens sein könnte, an Art Brut und die Prinzessin mit der großen hübschen Nase, an möglichst konzise aber überzeugende Argumente für meinen Atheismus, und an die beruhigende Tatsache, dass ich ja sowieso an der nächsten Station raus musste, also alles halb so schlimm.
Und hatte trotz dieses akuten Anfalls von Kopfsalat schon nach wenigen Sekunden realisiert, dass der Typ mit seiner Frage das Buch meinte, was ich in Händen hielt:
Catch 22 von Joseph Heller.
Meine Gesichtszüge entspannten sich, ich sagte „no, no, fcourse not, it’s my third time, I first read it more than twenty years ago (was ungefähr stimmt, und was, glaube ich, tatsächlich noch before „my first time“ war).
Und er erzählte dann jovial (weiterhin auf Englisch mit diesem wunderbaren französischen Akzent), er habe das schon vier oder fünfmal gelesen und es sei „fantastic“ und „such a gud buug“ und so weiter.
Und eigentlich war es also total schade, dass ich dann wirklich an der nächsten Station schon raus musste. Nice fella.

Anyway, da es vielleicht da draußen immer noch Menschen gibt, die den betreffenden Roman nicht gelesen haben: Sie sollten es schleunigst tun.
Es dürfte eines der meistverkauften Bücher der Literaturgeschichte sein, aber dieses eine Mal gehen eben tatsächlich künstlerische Brillianz und kommerzieller Erfolg ausnahmsweise Hand in Hand.
Es ist strictly anti-war, latent anti-capitalist (siehe Milo Minderbinder und „das Syndikat“), oft sogar ein wenig anti-human, aber trotz alldem ist es sehr, sehr lustig – ein Meisterwerk absurden Humors.
Letztendlich beschreibt es die völlig ausweglose Knechtschaft von Menschen durch ein irrationales System – in diesem Fall das System Militär und dessen logische Konsequenzen: Militarismus, Krieg, Tod, Wahnsinn et al. Ein System wohlgemerkt und wie immer, und das ist die Kernaussage des Buchs, dessen Regeln und Codes, die Menschen allesamt selbst erdacht haben, und durch ihr Handeln selbst aufrecht erhalten – mittendrin statt bloß dabei.

Verfilmt wurde Catch 22 logischerweise auch irgendwann, und das gibt mir zumindest die Gelegenheit, Ihnen ein paar Links via YouTube als Appetithäppchen zu kredenzen. Hier, hier und hier zum Beispiel. Aber selbstredend ist das Buch wie immer viel besser als die Verfilmung und sei Ihnen also hiermit dringend ans Herz gelegt. Im Original, nicht in der Übersetzung.
Merke: Man lernt gutaussehende, junge Franzosen damit kennen.

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