Werfen wir also heute, wie angekündigt, einen Blick zurück auf die ersten zehn Jahre des neuen Jahrhunderts.
Und errichten wir fünf Denkmale als Sinnbilder der 00er-Jahre, jenem Jahrzenht also, das sich nicht zu Unrecht nach einem Synonym für Toilette benannt hat – es ist schließlich jede Menge Scheiße passiert.

Denkmal 1 ist ein Container.
Kein Müllcontainer, sondern ein Wohncontainer.
Aber trotzdem ein Container, der einzig der Zurschaustellung von Müll diente, von kulturellem Müll nämlich.
Die 00er-Jahre begannen europaweit mit dem Durchbruch des Reality-TVs, angefangen und auch am erfolgreichsten repräsentiert durch „Big Brother“. Das Ende jeglicher Kreativität, wenn Sie so wollen. Menschen schauen anderen Menschen beim Nichtstun, Normalsein und Dummeszeugreden zu. Durch die inflationäre Verbreitung des Formats in allen möglichen Facetten hat sich der Trend zum Glück relativ schnell erschöpft und musste aus der Omnipräsenz bald wieder zurücktreten in die Nische des sogenannten Unterschichtenfernsehens (eines von vielen Wörtern, die es in den 90ern noch nicht gab).
Nur um auf beinahe noch beängstigenderer Massenerfolgsebene abgelöst zu werden von der Seuche der Casting-Shows. Ganz Deutschland, England, Frankreich, Rumänien, Andorra, Obervolta und die Antarktis suchten den Superstar, später das Supermodel und irgendwann auch die Supernanny, Bauern suchten eine Frau und schließlich behaupteten sie auch noch Talent zu haben („Britain’s Got Talent“, „Das Supertalent“ etc.).
Dabei haben Dieter Bohlen und Simon Cowell nicht nur ihre privaten Konten um einige Nullen vor dem Komma aufstocken können, sondern sie stehen nachgerade paradigmatisch (als menschgewordene Doppelnull in allen Belangen) für diese Dekade des voranschreitenden kulturellen und sittlichen Verfalls.
Einem sittlichen Verfall, daran sei erinnert, der vor etwa fünfzig Jahren, als der Rock’n’Roll und die Popkultur ihren Siegeszug durch die Welt aufnahmen, als Befreiung aus den Ketten der Spießbürgerlichkeit erdacht und empfunden wurde. Dass diese einstige Revolution längst ihre Kinder frisst, dass es längst an der Zeit wäre für einen neuen, diesmal intellektuellen, Befreiungsschlag aus dieser immer deutlicher zur Abwärtsspirale der Einfältigkeit degenerierten Popkultur, dafür lieferten die 00er-Jahre den endgültige Beweis.
Dafür steht der Container als Mahnmal.

Denkmal 2 ist ein Pappbecher mit Deckel.
Inwiefern der Coffee-to-go-Becher als Symbol des Lebensstils der 00er-Jahre taugt, darüber gibt der von mir im vorherigen Beitrag verlinkte Artikel aus der ZEIT beredt Auskunft. Also möchte ich hier nicht allzuviel wiederholen.
Früher machten die Menschen eine Kaffeepause, nahmen sich bewusst zehnminütige Auszeiten vom Stress des Alltags, um sich kurz der Muße, dem Gespräch und dem Genuss zu widmen. Heute glauben sie, dafür keine Zeit mehr zu haben und nuckeln an ihren verschlossenen Bechern, während sie vordergründig gerade mit etwas anderem beschäftigt sind. Mehr orale Bedürfnisbefriedigung der Post-Nikotin-Ära als bewusster Kurzurlaub von der Hektik der Zeitläufte.
Eine Hektik wohlgemerkt, die zwar auch vom in solchen Zusammenhängen dann gerne zitierten „Turbokapitalismus“ ausgeht, die sich die Menschen aber durch die inflationäre Zunahme der sogenannten Kommunikation (verbreiteter Euphemismus für die zumeist sinnlose Flut an E-Mails, SMS und, ja, auch Blogs wie diesem) größtenteils selbst eingebrockt haben.

Denkmal 3 ist ein Wort: Alder
Nein, ich behaupte nicht, dass die deutsche Sprache erst in den vergangenen zehn Jahren um diesen Ausdruck bereichert wurde. Aber kennzeichnend für das vergangene Jahrzehnt ist eben doch, dass „Alder“ inzwischen das mit Abstand meist gebrauchte Wort aller Menschen unter 30 ist, dass „Alder“ keine Distinktionsvokabel von Migrantenkindern mehr ist, sondern ganz normaler Sprachgebrauch auch aller sogenannten Muttersprachler. Sozusagen: was „geil“ in den Achtzigern und vielleicht „arm“ und „fett“ in den Neunzigern waren, ist „Alder“ in den 00ern. Ein verbales Muss.
Als Denkmal und Sinnbild steht es für den allgemeinen Sprachverfall und das Aussterben der Grammatik bei gleichzeitiger Ökonomisierung des Satzbaus („Isch geh Arbeid“, „Kommsdu McDonalds?“). Und das macht ja auch Sinn. Denn wenn man konsequent im Nominativ spricht und grundsätzlich auf alle Präpositionen, Artikel u.ä. verzichtet, entsteht ein ausreichendes Plus an Zeit und Raum, um im Satz noch zwei, drei Alders unterzubringen. Doppelt genial. Und fortlaufend amüsant dokumentiert auf Internetseiten wie der empfehlenswerten blablabla.de
Jedenfalls, wenn unsereins die heutige Jugend beim Palaver belauscht, dann weiß man vermutlich endlich, wie befremdet sich der britische Bourgeois jahrhundertelang gefühlt haben muss, wenn er seine amerikanischen Freunde sprechen hörte. Und warum er sie dafür verabscheute. In jenen Zeiten, bevor schließlich im vergangenen Jahrzehnt auch der englische Großsdtadtslang zu einer language-to-go verkam…

Denkmal 4 ist ein Panzer, besser bekannt als SUV.
Wo die Wahl des Autos als Verkehrsmittel aus der Sicht meiner Generation schon seit jeher dem Wählen der Null gleichkam, wußten die vergangenen zehn Jahre auch diese Null gekonnt zu verdoppeln. Und zwar nicht nur in puncto schierer Größe, sondern ebenso in puncto Spritverbrauch, Häßlichkeit und ostentativ zur Schau getragener Ignoranz.
Auch zu diesem Thema verweise ich auf die treffende Analyse der ZEIT, möchte aber ergänzen, dass der SUV insbesondere ein Denkmal ist für die 00er-Jahre als die Dekade der Angst (nicht zuletzt wegen Denkmal Nummer 5). Früher gingen wir Kinder zu Fuß in den Kindergarten und in die Schule. Heute werden die Kleinen die dreihundert Meter zum nächsten Hort im Leopard II gefahren, damit ihnen nur ja nichts passiert in dieser unheilschwangeren, verbrecherischen Welt (in der in Wirklichkeit seit Jahrzehnten die Zahl der Verbrechen eher zurückgeht). Keim-, zucker- und bewegungsfrei soll es ja bitteschön auch sein. Und in der Tat: während man früher als Kind eben ab und zu mal vom Auto „angefahren“ wurde, wie es damals hieß, würde man heutzutage vom vorbeirauschenden Hummer der Nachbarsmama schlicht plattgemacht.
(Letzteres könnte dann andererseits eine der drei Überwachungskameras des Einfamilienhäuschens, vor dem das traurige Unglück passiert, filmisch einwandfrei dokumentieren. Da freut sich der Anwalt.)
It’s a jungle out there, ergo braucht man adäquate Vehikel.

Denkmal 5 schließlich ist eine Ruine.
Ein aktuelles und gleichsam ein ehemaliges Denkmal.
Nämlich ein ehemaliges Denkmal des internationalen Kapitalismus, und das aktuelle der Dekade der Angst – das World Trade Center. Passenderweise hatte es zwei Türme, so dass uns auch hier die thematische Klammer der Doppelnull erhalten bleibt. Zum einen steht das Denkmal für ein Jahrzehnt, in dem wir zwar mal wieder und dankenswerterweise von einem sogenannten „großen“ Krieg verschont geblieben sind, in dem es aber trotzdem an allen Ecken und Enden fortwährend gekracht und gedonnert hat, und sinnloses Blut vergossen wurde. Ob für Allah oder für Öl, ob für die Freiheit Deutschlands am Hindukusch oder die Minutenberühmtheit eines amoklaufenden Schülers – es wurde und wird geschossen und zurückgeschossen, gebombt und geballert, und vergewaltigt und verhungert sowieso.
Zum anderen steht 9/11, und damit schließt sich der Kreis, wie kein zweites historisches Event für die mediale Ausleuchtung der Welt. Reality-TV went darkest reality, und alle waren dabei. Millionen haben spätestens den Anschlag auf den zweiten Turm live auf Bildschirmen verfolgt, auch ihr Blogadministrator klebte seinerzeit vor der WG-Glotze. Für Minuten hatten sich mal alle auf einen Sender geeinigt: das nullte Programm.
Ein Triumph, nebenbei, der oben noch in Frage gestellten modernen Kommunikationsmedien. Denn in einer Welt ohne Mobiltelefone hätte dieser Grand-Prix der Niedertracht natürlich niemals sein besagtes Millionenpublikum erreicht.

Enden wir also versöhnlich mit einem weiteren, und nebenbei noch recht aktuellen Schmankerl aus dem Jahrzehnt der totalen Kommunikation. Welches zwar nicht die Strahlkraft eines Denkmals hat, aber doch ein beredtes Zeichen für die 00er-Welt darbietet: Killing In The Name Of von Rage Against The Machine war in der Weihnachtswoche 2009 die Nummer Eins der britischen Charts (die Blognachbarin berichtete). Und für charmante Absurditäten wie diese muss man sie fast schon wieder mögen, die neue Zeit.
War cool, Alder.
Denkmal drüber nach.

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