Zugegeben, die unlängst hier vorgenommene Titulierung von Paul McCartney als „Queen Mom der britischen Popmusik“ ist irgendwie charmanter – zumal sie ja durchaus auch als eine Art Unsterblichkeitsmetapher taugt – aber die kirchlichen Weihen, die ihm in der heutigen Überschrift zusätzlich noch verliehen werden, treffen den Punkt halt auch ganz gut. Schließlich verehren wir unsere musikalischen Lieblinge gerne mal auf nahezu religiöse Weise, und wenn es eine Ikone der Popmusik gibt, dann er.
Und das gleichsam Verstörende wie Schöne an dieser Ikone ist, dass sie noch lebt. Dass sie zwar einerseits bereit ist, die Denkmalsrolle anzunehmen, wenn die Welt danach verlangt (dann spielt sie zum Grande Finale von Live Aid Let It Be oder trällert in olympischen Sphären Hey Jude), dass sie aber andererseits auch immer noch „ganz normale“ neue Alben veröffentlicht.

Wenn man über Paul McCartney spricht, sollte man sich stets eins in Erinnerung rufen, was allzu oft vergessen wird: McCartney war nicht nur einer der zwei Beatles-Masterminds, sondern er war noch deutlich länger der Leader einer weiteren Band, der Wings. Und diese beiden Kapellen haben recht unterschiedliche Musik gemacht.
Mit den Wings gelang McCartney der Husarenstreich, als vermutlich prominentester und reichster Musiker der Erde, trotzdem so etwas wie eine erste Indie-Band der Welt auf die Beine zu stellen. Eine Band, die sich so manchen herzhaft unkommerziellen Moment gönnte, die gerne in diversen musikalischen Himmelsrichtungen experimentierte, die also den künstlerischen Freiraum, den nur der ökonomisch völlig Unabhängige sich leisten kann, in vollen Zügen genoss, ohne dabei ins Abseitige oder gar Nervige abzurutschen, in das der John Lennon der post-Beatles-Ära leider ein ums andere Mal sehenden Auges schlitterte.
(Schlitterte?? Wohl eher raste!…)
Auch für die Wings schrieb McCartney Musik für Millionen, wenn ihm gerade mal danach war, aber meist wirkte die Band auf eine angenehme Art schrullig bis trotzig. Weil er eben beides kann. Er kann Yesterday und Mull Of Kintyre, aber er kann auch Helter Skelter, Morse Moose and the Grey Goose, Küchencalypso und Amateur-Funk*.
Und so oder so kommt fast immer etwas Großes dabei zu Stande.
Anders ausgedrückt: Sir Paul ist durchaus bereit, sich seiner Ikonenpflichten etwa 50% der Schaffenszeit affirmativ anzunehmen, aber in den anderen 50% macht er, rotznasig und bewusst naiv, einfach was er will.

Nun, so einiges aus seiner dritten Karrierephase, als nicht-Beatles- und nicht-Wings-Solokünstler, ist nur mit sehr viel Nachsicht zu ertragen – die oben waghalsig gebrauchte Vokabel „indie“ greift hier nun wirklich nicht mehr (meiden Sie z.B. die 2007er, äh, „unglücklich ausgewählte“ dudei-dudei-du-Single Ever Present Past).
Aber Schwamm drüber; ich meine, der Herr ist 71!
Und außerdem gelangen ihm auch in den durchwachsenen letzten 20 Jahren immer mal wieder echte Meisterwerke – etwa das 1997 erschienene Album Flaming Pie.
Und das nun gerade rausgekommene, schlicht New betitelte, neue Album ist ebenfalls wunderbar. Auf Flaming Pie war er ganz der elder-stateman-of-British-Pop, aber auf New vereinigt er auf gekonnte Art und Weise die beiden oben beschriebenen, sich nur scheinbar widersprechenden Wesenszüge, ohne dabei auch nur ansatzweise schizophren zu wirken. Mal ist er der Ex-Beatle in Perfektion, etwa auf dem Titelstück, aber vieles lässt sich besser verstehen, wenn man auch mit dem Wings-Oeuvre vertraut ist. Durchweg klingt er mindestens 30 Jahre jünger als er wirklich ist, und die trotzige, schuljungenhafte, ich-mach-jetzt-einfach-mal-was-ich-will-Attitüde bricht immer noch hier und da durch. Dass dann auch mal was daneben geht, etwa bei ein, zwei Elektro-Experimenten im Arrangement, die er besser bleiben gelassen hätte, verstärkt nur die ungeheure Sympathie, die man einfach für diesen Menschen haben muss.
Dass er darüberhinaus, anders als die meisten anderen gealterten Recken, offenbar immer noch beinahe keine Probleme mit seinen Stimmbändern zu haben scheint (die Ballade Early Days ist der einzige Song, bei dem ihn diese dann leider doch im Stich lassen), verstärkt nur diese Aura von ewiger Jugend, die ihn wundersamerweise umgibt.
Ich sage es noch ein Mal: Dieser Mann ist 71!
Verstehen wir uns also nicht falsch: New ist kein „Über-Album“. Es ist einfach nur eine erstaunlich unprätentiöse und dabei gute Platte.
„Just wanna keep making daily records“ textete Pete Townshend gegen Ende von The Who. Und vermutlich wird Paul McCartney just dann sterben, wenn er, in ein paar Jahren, gerade mal wieder irgendeine eher mittelmäßige, „ganz normale“ (siehe oben) Platte veröffentlicht hat.
Bis dahin wird er uns jedoch nicht nur als Queen Mom und als Papst Paul, sondern vor allem auch als Dorian Gray der britischen Popmusik weiter erhalten bleiben. And that is a very good thing!

Links:
New
Queenie Eye
Save Us

Lyric sample:
On the very Wings-ey On My Way To Work he goes:

„On my way to work
I bought a magazine
Inside a pretty girl
Who liked to water-ski

She came from Chichester
To study history
She had removed her clothes
For the likes of me.“

rhyming „Chichester“ with „history“ – that’s the fine art of sublime songwriting!…

* = Dies ist ein geistvolles Wortspiel. Bitte hochschätzen!

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