Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und also gebietet es die Blogpflicht, Ihnen in den nächsten Tagen mal wieder einen musikalischen Jahresrückblick zu kredenzen.
Anders als in den Vorjahren, möchte ich dieses Jahr nicht auf die Jahrescharts der Zeitschrift Q eingehen, weil ich mit deren Auswahl heuer in nur äußerst geringem Maße übereinstimme.
Der Plan ist statt dessen folgender: Im heutigen, ersten Beitrag werde ich ein wenig theoretisieren und analysieren, und in den Folgetagen nenne ich Ihnen dann die Songs und Alben aus 2011, die man aus meiner Sicht auf jeden Fall gehört haben sollte.

Wenn man mal einen ganz weiten Bogen spannt, sozusagen die longue durée à la Braudel der Popgeschichte betrachtet, kommt man um eine Beobachtung nicht herum: Hip-Hop/Rap hat in den vergangenen zwanzig Jahren die Rockmusik und spätestens vor zehn Jahren auch die elektronische Tanzmusik als wichtigste Form der Jugendkultur abgelöst.
Natürlich ist Rock nicht tot – schließlich leben alte Säcke wie ich ja weiter und bleiben musikalisch zwar nicht engstirnig aber doch treu bei ihren Leisten. Aber was ich oder größtenteils auch Sie, liebe Leser, machen, ist eben schon lange nicht mehr JUGENDkultur.
Eine der üblichen Begleiterscheinungen von solchen kulturellen Wachablösungen ist eine mehrjährige Übergangsphase, die unter anderem von vielgesichtigen Crossover-Versuchen gekennzeichnet ist. Anders ausgedrückt: die jeweils zurückgedrängte Tradition nimmt immer mehr Elemente der neuen, aufstrebenden in sich auf, und das mit teilweise überaus brauchbaren Resultaten.
Die letzte große Wachablösung liegt wie gesagt ca. zwanzig Jahre zurück und dieser Wandlungsprozess bescherte uns en passant ein wahres Füllhorn an Crossovermusik – denken Sie nur an Faith No More, Rage Against The Machine, Urban Dance Squad, Chili Peppers, Dog Eat Dog etc.pp.
Worauf ich hinaus will: Es wäre sicherlich verfrüht von einem Ende der Hip-Hop/Rap-Ära zu sprechen, aber es mehren sich die Zeichen, dass sich die Regentschaft womöglich ihrem Ende zuneigt. Die Anzahl der Crossoverprojekte hat in den letzten Jahren ständig zugenommen (in diesem Fall handelt es sich jeweils um die Verquickung von Rap-Musik mit diversen Stilen der elektronischen Tanzmusik) und auch verbal lässt sich dieser Trend belegen. Wer heute etwas auf sich hält in der britischen Hip-Hop-Szene wird jedenfalls großen Wert darauf legen, nicht etwa Hip-Hop zu machen sondern Grime. Anders herum werden auch in der elektronischen Musikwelt die Distinktionspunkte dadurch erzielt, dass man auf jeden Fall Dubstep ist (ähnlich wie der Begriff R’n’B hat auch der Begriff Dub in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder kräftig seine Bedeutung verändert…). Gemeint ist in beiden Fällen das Gleiche: nämlich, dass Hip-Hop- mit Dance-Einflüssen vermischt werden.

Und damit sind wir endlich bei der britischen Popmusik gelandet, für die dieser Blog sich nun mal zuständig fühlt. Dort sind nämlich Grime und Dubstep längst im allgemeinen Bewusstsein und damit auch im Mainstream angekommen, und haben folglich in 2011 teilweise die Charts regiert.
Zu nennende Künstler wären etwa Example, Katie B., Tinchy Stryder, Dizzee Rascal, Professor Green oder Tinie Tempah. Auch der Erfolg eines primär an Drum’n’Bass orientierten Projekts wie Chase & Status muss in diesem neuen Kontext verstanden werden. Denn so sehr manchem Puristen an Hand solcher Crossover-Wellen die Haare zu Berge stehen mögen (schließlich trägt jede Form der Hybridmusik auch immer ein wenig den Makel des Sakrilegs) – das entscheidende Merkmal erfolgreichen Crossovers ist stets: die gute Party.
Hip-Hop ist live im Normalfall nicht stadiontauglich. Erst wenn ich meinen Rap mit Kirmestechnobeats unterlege, kann daraus Festival- also Jedermannsmusik werden (siehe im deutschsprachigen Kontext: Deichkind).

Bliebe die Frage, was denn herauskommt am Ende dieser Entwicklung. Also was an die Stelle von Hip-Hop/Rap als wichtigste Ausdrucksform der Jugend- und Popkultur treten wird.
Nun, natürlich keine Ahnung, aber eine Prophezeiung sei erlaubt: es wird elektronische Musik sein. Musik, die mehr oder weniger ausschließlich aus Computern und Stimmen besteht. Aber eben nicht im Gewand eines 90er-Jahre Techno/House-Getöses, sondern so vermute ich mal: klassisches Songwriting mit beinahe komplett elektronischer Instrumentierung. Spoken-Words mit Dancebeats als Festivalsoundtrack und Rockersatz. Und reduzierte, intime elektronische Balladen für die Schäferstündchen.
Diverse Retrowellen werden wir natürlich trotzdem erleben, und nicht zuletzt, spätestens 2015 die nächste große Britpop-Indie-Sause.

Verlassen wir nun Braudel und wenden uns Kondratjew zu…
Denn auch auf dem Gebiet der Gitarrenmusik ist natürlich die Zeit nicht stehen geblieben. Der hier im Blog schon häufiger behauptete 8-10-Jahreszyklus, mit dem klassischer Indie-Rock ins Zentrum des popkulturellen Mainstreams rückt (Manchster-Rave Ende der 80er, erste große Britpopwelle Mitte der 90er, zweite große Britpopwelle Mitte der 00er-Jahre) hat seinen Zenit ja nun schon vor etwa fünf Jahren überschritten. In den letzten zwei, drei Jahren machten plötzlich alle Folk, und noch ist diese merkwürdige Entwicklung durchaus in den Hitparaden präsent. Jedenfalls haben Bands wie Mumford and Sons, Fleet Foxes, Young Rebel Set, Noah And The Whale und teilweise Bombay Bicycle Club in den letzten zwei Jahren deutlich mehr Raum beansprucht und Aufmerksamkeit gefunden als die Übriggebliebenen aus der großen Britpopwelle von Mitte der Nullerjahre. So ist etwa das vierte Album der Kaiser Chiefs beinahe untergegangen und selbst über das vorzügliche vierte Opus der Arctic Monkeys wurde trotz wenigstens noch beständiger Verkaufszahlen außergewöhnlich wenig gesprochen.
Außer hier im Blog, versteht sich.
Denn, was ich bei all dem betonen möchte, ist folgendes: Das oben dargestellte soll nicht heißen, dass ich persönlich diese Entwicklungen mit übermäßiger Sympathie verfolge. Natürlich glaube ich weiterhin, dass 2005 und 2006 die absolut herausragenden Musikjahre der vergangenen Dekade waren.
Aber ich freue mich trotzdem darüber, dass 2011 wenigstens mal wieder ein etwas spannenderes Jahr war. Denn neue Trends und sich abzeichnende, tiefgreifende Veränderungen der Popwelt sind, auch wenn man nicht sofort begierig auf den Zug aufspringt, doch zumindest interessanter als Stillstand oder Rückgriff auf das, was immer geht. Anders ausgedrückt: Ein Jahr, in dem Kaiser Chiefs in den Charts auf Eins stehen, ist mir lieber als ein Jahr, in dem Example dort zu finden ist. Aber Example auf Eins vibriert immer noch deutlich mehr als U2 oder Coldplay oder meinetwegen auch Elbow auf Eins.
Ich habe nichts gegen U2 oder Coldplay und erst recht nichts gegen Elbow. Aber ich habe etwas gegen Stillstand und Langeweile.

The Links:
Example
Chase & Status
Bombay Bicycle Club (from 2010)
Mumford and Sons (from 2009)

Der Rest der Folk-Pop-Schar wird in den nächsten Tagen bei den besten Alben oder besten Songs zu finden sein, und einiges wurde ja hier im Blog auch bereits im Laufe des Jahres 2011 verlinkt.

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