Was unterscheidet kleine von großen Kindern?
Bei genauerem Blick nicht wirklich viel.
Im Grundschulalter rennen sie durch die Straßen und singen
„Po-Po-Popocatepetl“
und später, so ab der elften Klasse, rennen sie durch die Straßen und singen (je nach historischer Ära)
„Ho-Ho-Ho Chi Minh!“ (sechziger Jahre)
bzw.
„Wo-Wo-Wo ist die nächste virtuelle flat-rate-ultra-speed-dating-party?“ (heute)
1980 sangen sechs maskierte Wilde auch mal
„Ha-Ha-Ha-Hadschi-Halef-Omar!“, but that’s a different story.

Nun, selbstverständlich unterscheiden sich große und kleine Kinder optisch sehr stark.
Aber offensichtlich verbraucht der Mensch so viel Energie für das körperliche Wachstum, das für das Wachstum der Ganglien nicht mehr allzuviele Kalorien übrigbleiben.
Wohl vermag man bis zum Abitur eine erkleckliche Menge Wissens sich anzueignen, wenn man denn möchte. Aber die zentralen Ingredienzen wirklicher Intelligenz, also Abstraktionsvermögen und die Reduktion der angeborenen Neigung zu ignorantem Egozentrismus, sind zumeist allenfalls in Ansätzen vorhanden.
Insbesondere die Fähigkeit des Abstrahierens von den eigenen Wünschen und Bedürfnissen, sowie der eigenen kleinen Welt, anders ausgedrückt: das Potenzial des Über-den-Tellerrand-Schauens, des objektiven Erfassens von Problemen und deren strukturelle Grundlagen, ungetrübt von der eigenen Interessenlage und dem eigenen Blickwinkel, noch anders ausgedrückt: die Grundvoraussetzungen wissenschaftlichen Arbeitens und Begreifens, sind einfach noch nicht erfüllt.
Weshalb es etwas ungeschickt ist, die Kinder genau zu diesem Zeitpunkt auf die Universität zu schicken. Denn auch im nun folgenden dritten biografischen Jahrzehnt tut sich der Mensch mit der geistigen Reifung weiter schwer. Der Körper ist endlich ausgewachsen und giert nach Beschäftigung.
„Geezers need excitement. If their lives don’t provide them this, they incite violence.“ (The Streets). Ein alter Hut.
Menschen in Ihren Zwanzigern sind einfach noch viel zu hetero- resp. homo- jedenfalls aber hochgradig sexuell, um sich so ausgiebig und mit wirklichem Interesse in ein Thema zu vertiefen, wie es etwa das Studium einer Geisteswissenschaft erfordern würde.
Zudem trübt es die Konzentration bei der frühabendlichen Adorno-Lektüre, wenn man später noch mit ein paar Freundinnen zum Anzünden des Springer-Hochhauses verabredet ist (sechziger Jahre) bzw. zur gemeinsamen Wiesn-Dirndl-Anprobe (heute).
Zurechnungsfähigkeit fängt bei den meisten erst ungefähr mit dem achtundzwanzigsten Lebensjahr an. Jüngere Menschen gehören nicht in Studierzimmer und Hörsääle (in denen sie ohnehin nur Papierflieger basteln und untereinander dummes Zeug reden), sie gehören auf die Straßen, in Diskotheken, in Bands und Theatergruppen, sollen Städtereisen, Snowboardurlaube, Drogenexperimente und erotische Abenteuer machen, nebenbei ein bißchen dies und das jobben – mit anderen Worten: sie sollen Lebenserfahrung sammeln. Genau die Lebenserfahrung, die ihrem Gehirn dabei hilft, jene obengenannten intellektuellen Kernkompetenzen auszuprägen, die sie fortan auch zu einem potenziell gewinnbringenden Studium, sowie allgemein zum sinnvollen Umgang mit dem Leben und den Mitmenschen befähigen könnten.
Um den Punkt noch mal irgendwie anders zu machen – ich meine all das ja durchaus ernst:
Ist es nicht nachgerade grotesk, dass man Jugendliche spätestens ab dem 8./9. Schuljahr täglich mit neuen und zunehmend komplexen intellektuellen Problemstellungen konfrontiert, während man Erwachsene nurmehr mit dem hohlen kapitalistischen Überlebenskampf und, in Sachen Zerstreuung, mit dem größtenteils grenzdebilen Output der verfügbaren Unterhaltungsmedien geistig kleinhält? Im Zustand der höchstmöglichen körperlichen Einsatzfähigkeit zwingt man die armen Menschenkinder auf Schul- und Hörsaalbänke, und wenn sie endlich den Zustand der höchstmöglichen zerebralen Leistungsfähigkeit erlangt haben, soll ihr Geist bloß noch auf Sparflamme werkeln und zwangsläufig verkümmern.
It’s a strange world!
Oder, wie vielleicht ein Foucaultianer unken würde: eine schauerlich perfide Machtstruktur, in der menschliche Potenziale bewusst an der Entfaltung gehindert werden.
Womöglich.

Anyway, das vierte Lebensjahrzehnt ist eigentlich jenes, das der Mensch vorrangig der Aneignung von Wissen widmen sollte.
Und in dem es darüberhinaus nicht schadet, ein wenig Stil kultiviert zu haben.
Wer mit Mitte dreißig immer noch Komasaufen zu seiner Kernkompetenz erklärt und für das Nonplusultra freudebringender Freizeitokkupation hält, ist zwar womöglich ein sympathischer Typ, wird aber auf Dauer bei den Damen keine rechte Schnitte mehr machen.

Deshalb stimmt es mich froh, dass ich heute in einem SALON (!) war.
Nebenbei: nachdem ich gestern einen alten Schulfreund traf, der mir von seinem neuen Hobby, dem Golfspiel, vorschwärmte, ich ergo heute meinen eigenen bisherigen Karriereverlauf einer kleinen Prüfung in pekuniärer Hinsicht unterzog, ist mein Hunger nach, äh, vorgeblich großbürgerlichen Attributen meines recht bescheidenen Daseins ein wenig befeuert worden.
Weshalb ich aktuell den Aufenthalt in einem „Salon“ gegenüber etwa dem Aufenthalt in einer „Spelunke“ oder einem „Laden“ (dem Allgemeinbegriff für eine etwas abgeranzte Discothek) preferiere.
Als schreibender Künstler ist das auch irgendwie das passendere Ambiente.
Leider steht für mich die naheliegende Variante des Besuchs eines „Haarschneidesalons“ aus frisurbiologischen Gründen nicht mehr zur Debatte. Und im noblen Debattiersalon des Golfclubs meines Schulfreunds stehe ich aus unerfindlichen Gründen bislang noch nicht auf der Member’s List. (I’m not yet one of these handicapped people, excuse the pun…)

Bleibt also nur der Waschsalon.
Abgesehen von dem winterlichen Geborgenheitsplus, dass man auf dem Hinweg zum wie auf dem Rückweg vom Waschsalon eigentlich unter keinen Umständen erfrieren kann (denn man hat bestimmt auch für die sibirischsten Verhältnisse genug zum Drüberziehen dabei), gefällt mir einfach die legèr-luxuriöse Athmosphäre dort:
ausgesuchte Teppiche aus geschmackvollem Knüpfwerk sowie Art-Deco-Lampen aus feinstem roten Tuch hüllen den Raum in ein heimeliges Ambiente. La Bohème.
In die Jahre gekommene Schauspiel-Diven mit an verlängerten Zigarettenspitzen aus Elfenbein befestigten Dunhills schlendern aufreizend passiv durch den Raum und suchen den intellektuellen Plausch mit pfeiferauchenden Orientalistik-Professoren und den Conferenciers der örtlichen Varieté-Theater.
Der Jazz-Klarinettist von nebenan dreht lässig ein paar seiner Bühnenjacketts durch die Heißmangel, während er der Mineralogin von gegenüber ein wissendes Augenzwinkern schenkt für die beinahe selbstverständliche Ironie, mit der sie ihr Einstein-on-the-Beach-T-Shirt mit den Slayer-Klängen aus ihrem ipod kontrastieren lässt;
der Musikwissenschaftler, Herr von S., sitzt wie immer in der Ecke, brütet über dem Laptop und feilt an der letzten Zwölftonreihe seines kurz vor Vollendung stehenden seriellen Opus „Schleudertraum A“;
und der seit nunmehr zwanzig Jahren hier ein und ausgehende Italo-Amerikaner mit dem inzwischen weißen Rauschebart, den alle nur Joe nennen, erfreut die Anwesenden mit einer spontanen Tangible-Art-Performance, zu deren Behuf er seine halbleergetrunkene Flasche „Gordon’s Dry Gin“ in den Trockner stellt, um ihn, wie er sagt, zu vervollkommnen.

Na? Sie schauen so skeptisch?
Stimmt etwa was nicht an meiner Beschreibung?
Vor Jahren führte die örtliche Programmzeitschrift PRINZ mal einen Waschsalontest durch, bei dem u.a. der „Flirt-Faktor“ des jeweiligen Etablissements bewertet wurde.
Auch so mancher Werbespot und das ein oder andere Musikvideo bemühen das rätselhafte Klischee, es handele sich beim Waschsalon um eine ganz passable Kontaktbörse.
Und neulich fragte mich ein Freund ernsthaft, ob ich denn bei meinen allwöchentlichen Waschsalonbesuchen schon mal eine “scharfe Bekanntschaft” gemacht hätte.
Wer jemals eine großstädtische Launderette von innen gesehen hat, kann ob dieser merkwürdigen Phantasien in der Tat nur ungläubig den Kopf schütteln.
Das übliche Setting vor Ort präsentiert sich nämlich eher so:

Vor mir fünf albanische Autoschieber, die bereits seit Minuten das Terminal blockieren.
Da ist Duldsamkeit Gebot der Stunde, bei solchen Leuten drängelt man ungern; man gibt sich besonnen und nonchalant.
Neben mir ein junger Mann, Typ Studi, der sich mit leerem Blick auf seinen Koffer mit der Dreckwäsche stützt, minutenlang regungslos, scheinbar darüber brütend, was wohl der sinnvollste nächste Handlungsschritt sein könnte.
„Den Koffer öffnen!“, möchte man ihm helfend zuflüstern. Doch leider riecht der Typ nach einem mißglückten Blend aus Puff und Ziegenstall, so dass man ihm zunächst lieber selbst eine kleine Hauptwäsche bei 95 Grad (ohne Weichspüler – weich in der Birne ist er ja bereits) empfehlen möchte.
Hinten in der Ecke sitzt ein junger Ossi, Typ Ossi, der die ganze Zeit wirr vor sich hinbrabbelt. Also vermutlich, um im Jargon zu bleiben, auch nicht wirklich als pflegeleicht bei 30 Grad zu bezeichnen ist.
Eigentlich regiert wird der Raum aber von zwei, jeweils ca. 3 Zentner schweren, schwarzafrikanischen Mamas, beide mit einer nur grob schätzbaren Anzahl lärmender Kleinkinder am Rockzipfel. Sie nehmen, abgesehen von ihrer auf Flughafenstartbahnlautstärke betriebenen Dauerkonversation, drei Viertel aller Maschinen und Trockner in Beschlag, da sie offenbar die Käsesocken des gesamten Grals zu waschen beauftragt wurden.

In diesem Moment geschieht das Wunder. Eine ca. mittzwanzigjährige, knappbekleidete Prinzessin betritt den Raum, ein wunderschöner Körper mit einem wunderschönen Gesicht, kugelrunde tiefbraune Augen („Your eyes just park like lightbulbs“ – The Answering Machine), schwarze Chucks zu stilvollem Minirock und ein wundervolles Trägershirt mit der Aufschrift To Russia My Homeland, immerhin auch der Titel eines Songs von einem der schönsten Alben aller Zeiten. Kurz: Eine Fee, ein Gemälde, eine Offenbarung, ein Zauberwesen, das der liebe Gott offenkundig einzig und speziell für mich geschaffen hat.
Da alle Maschinen bereits besetzt sind setzt sie sich einfach hin, holt aus ihrer Tasche einen Bogen Papier und faltet einen Papierflieger. Auf den linken Flügel schreibt sie mit schwarzem Filzstift „Fuck Racism!“ und auf den rechten „Free Kosovo!“. Dann schickt sie ihn mit elegantem Schwung des Arms auf die Reise. Der Flieger beschreibt zwei würdevolle große Runden knapp unter der Decke das Salons und landet schließlich auf geradem Weg und unversehens haargenau in der Mitte meines linken Auges. Was für ein perfekter Wurf!
Ich schreie laut auf vor Schmerz und krümme mich fluchend am Boden. Die Negerkinderschar lacht schadenfroh auf, die Negermammis spenden Beifall, selbst der Studi und der Ossi scheinen plötzlich hellwach zu sein und stimmen in das Gelächter und den Beifall der Versammlung mit ein. Der Beifall geht in rhythmisches Klatschen über, die Negermammis wiegen ihre Atomhintern im Beat und singen „Hava Nagila Hava“, der ganze Waschsalon tanzt und feiert, einer der Autoschieber zieht im Überschwang seine Knarre und schießt drei Mal an die Decke.
Ich liege immer noch am Boden und krächze, kaum hörbar:
„Po-Po-Popocatepetl“.

Egal. Ich meine, Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, sexuelle Vorlieben äußerst divergent ausgeprägt, und der moderne Großstädter stets offen für Aufregendes und Neues.
Es beschleicht mich aber dennoch hin und wieder der stille Verdacht, dass der „Flirt-Faktor“ der mir bekannten Waschsalons in Ffm-Bockenheim eher so im niedrigeren Bereich angesiedelt ist.
Ja dass, um ehrlich zu sein, schon das oben so verheißungsvoll ins Spiel gebrachte Wörtchen SALON mir eine irgendwie nicht ganz passende Bezeichnung für das ebendort vorzufindende Ambiente zu sein scheint.

Aber das vierte Lebensjahrzehnt sollte ja, wie dargelegt, sinnvollerweise vornehmlich der Wissensaneignung dienen. Und lernen kann man hier fürwahr einiges.
Übers Leben.
Golf lernen wir dann im fünften.
Denn vorerst sollte ich mir wohl primär eingestehen, dass der Weg
vom echten Waschsalonlöwen zum waschechten Salonlöwen
ein weiter und steiniger ist.
Und noch gänzlich vor mir liegt.

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